18) Ausblick

    ln einem Buch, das sich an den Bonsai-Anfänger wendet, sollten weiterschauende Überlegungen nicht fehlen.

    Kontakte zu Gleichgesinnten

    Ohne Anregung von außen wird kaum jemand die Stufe eines Meisters erreichen, auch nicht der Bonsai-Gärtner Eine erste Zeit des eigenen, stillen Probierens ist zwar gut und notwendig, aber eines Tages müssen wir dann bereit sein, die Unterstützung Gleichgesinnter zu suchen und anzunehmen. Ihr freundschaftlicher Rat und ihre Bestätigung vermitteln uns Freude und neuen Schwung zum Weitermachen. 

    Mehr im Vorbeigehen werden wir Kontakte zu Angestellten oder Besitzern von Bonsai-Geschäften knüpfen. Oft sind sie gute Gesprächspartner. Bessere und mehr Möglichkeiten finden wir in Bonsai-Vereinigungen. Sie bieten mit Gesprächsabenden, Seminaren und Exkursionen wertvolle Hilfen. So erfreulich die Aktivitäten der Vereine sind, so bedauerlich ist es, dass sie sich nur auf wenige Orte konzentrieren. 

    Mit Freude lässt sich jedoch feststellen, dass Bonsai schnell den Weg zu neuen Anhängern findet. Die hier und da entstehenden Arbeitskreise und Stammtischtreffs weisen auf das große Bedürfnis des Erfahrungsaustauschs hin.

    Wie viele Bäumchen »braucht« der Bonsai-Gestalter?

    Für den modernen westlichen Menschen ist es nicht leicht, 

    sich zu freuen ohne zu »haben«. 

    E. FROMM

    Wer nach einem tieferen Verständnis für die Bonsai-Idee strebt, wird erkennen, dass es nicht auf die Anzahl der vorhandenen Bonsais ankommt. Wer aber Bonsai zu seinem Steckenpferd erkoren hat, braucht Übungsmaterial - je mehr, desto besser Erst mit zunehmender Erfahrung wird man anspruchsvoller und sortiert die unzureichenden Exemplare aus. Ein Meister mit langjähriger Erfahrung wird nur noch seine schönsten Bonsais besitzen - und das sind wenige.

    Vom Lehrling zum Meister

    ln jedem Handwerksberuf beginnt man als Lehrling seine ersten Erfahrungen zu sammeln; die Gesellenzeit schließt sich an, und mancher Begabte krönt seine Laufbahn mit der Meisterprüfung. Ähnlich verhält es sich beim Bonsai-Amateur. Der Kenntnisstand eines Bonsai-Gesellen könnte sich dann an folgenden, grob umrissenen Lernzielen orientieren 

    • Jede wichtige Baumform hat er gestaltet. 

    • Eine Felsen- und Waldform kann er zu sammenstellen. 

    • Im Vermehren, Pfropfen, Veredeln und Vergreisen kennt er sich aus. 

    • Kranke Bäume weiß er zu behandeln. Die Zeit, die nötig ist, um diese Stufe zu erreichen, hängt ab von der Begeisterung jedes einzelnen Bonsai-Freundes. Aber mindestens 5-6 Jahre wird er dazu brauchen - es sei denn, er habe durch eine gärtnerische Ausbildung schon einen Vorsprung. 

    Wer Außergewöhnliches auf diesem Gebiet leistet, dem wird der »Bonsai-Meisterbrief« verliehen. Die Entscheidung darüber obliegt anerkannten Meistern, die sein Bäumchen aus künstlerischer Sicht bewerten. Das verdeutlicht, dass Bonsai keinerlei Grundlage besitzt, wo es nur als modische Narretei betrieben wird.

    Auf eigenen Füßen stehen

    Soll Bonsai auch in Europa eine Zukunft haben, dann liegt noch ein herbes Stück Kulturarbeit vor uns. Zwar respektieren und schätzen wir die Tradition des fernöstlichen Bonsai, auch das Können alter und neuer Meister, doch werden wir uns allmählich loslösen von diesen Vorbildern und eigene Wege suchen müssen. Die Richtung zu weisen, gehört mit zur Hauptaufgabe unserer Bonsai-Vereine. 

    Bonsai à Ia française. Ein bemerkenswertes Beispiel für einen anderen Weg gibt der Franzose GERARD LEPRÈTRE. Einige seiner Bäumchen sind in dieser Dokumentation abgebildet. Wie LEPRÈTRE zu seinem Steckenpferd kam und es weiterentwickelte, ist für mich so einmalig, dass ich kurz darüber berichten möchte.

    ln einem Brief beschreibt er seine Empfindungen während eines Sonntagsspaziergangs, der den gerade Zwölfjährigen mit seinen Eltern in einen Wald führte. Unter den hohen Bäumen mit ihren gewaltigen Stämmen, für ihn großartig und bedrohlich zugleich, träumt der Junge davon, aus den Riesen Zwerge zu machen, damit er sie näher bei sich spüre. Er, der keine Ahnung davon hat, dass auf der anderen Seite der Erdkugel Menschen schon vor Jahrhunderten einem ähnlichen Wunsch nachgaben, gräbt zwei junge Bäumchen aus und pflanzt sie in Töpfe. Heute, nach bald 30 Jahren, sind sie nicht höher als 60 cm, und er freut sich jeden Tag darüber wie gesund und schön sie aussehen. Erst als Erwachsener und nach jahrelangen Versuchen mit der »Verzwergung« von Bäumen stößt er auf eine englisch sprachige Bonsai-Publikation und stellt verwundert fest, dass er fast alles, was er hier liest, längst selbst praktiziert hat. Dennoch ist er von den Fotos japanischer Bonsais so fasziniert, dass er sofort beginnt, für eine »Bonsai-Traumreise« nach Japan zu sparen. Einige Jahre später wird der Traum Wirklichkeit.

    Bei allem, was er in Japan über die festgefügte Bonsai-Tradition erfährt, beeindruckt ihn vor allem die Möglichkeit, Bonsai in den Rahmen einer vertieften geistigen Betrachtungsweise zu stellen. Er befasst sich intensiv damit und wendet sich sogar dem Zen-Studium zu. Heute bestimmt eine Mischung aus eigener und östlicher Bonsai-Philosophie sein Tun, und er meint, durch Bonsai ein anderer Mensch geworden zu sein. Er ist sogar überzeugt, dass Bonsai manchem seelisch Leidenden ein Weg zur Heilung sein könnte. LEPRÈTRE nennt seine Art, Bonsais zu erziehen und zu betrachten, »Bonsai à Ia française« (französischer Bonsai). Er sieht Bonsai als Einheit mit der Umgebung. So rückt Bonsai à Ia française in dreierlei Hinsicht von den japanischen Regeln ab: Es 

    • wirkt erst im Zusammenspiel mit seiner Umgebung 

    • bevorzugt mehr geometrische und symmetrische Formen, die auch im französischen Garten vorherrschten 

    • harmoniert auch mit schweren Steintöpfen. Durch sie sollen die Bäumchen imposanter erscheinen.

    Bonsai als Aufgabe für ältere Menschen

    An dieser Stelle möchte ich noch den älteren Leser ansprechen. Ihm kann für die künftige europäische Bonsai-Kultur eine besondere Rolle zukommen. So erfreulich aufgeschlossen sich viele junge Menschen heute für Bonsai zeigen, so ungewiss ist es, ob sie dabei bleiben. Sie sind unternehmungslustig, wollen Neues erleben, fremde Länder, Städte und Menschen kennenlernen. Da bleibt wenig Spielraum für das bedächtige Erziehen solcher Bäumchen, das Ausdauer und Geduld verlangt. 

    Es wäre deshalb gleichermaßen gut für die Sache wie für die Ausgleich suchenden älteren Menschen, wenn sie sich mit Bonsai beschäftigten. Wer meint, die ihm verbleibende Zeit reiche dafür nicht aus, den möchte ich mit MARTIN LUTHER ermuntern, sein »Ja« zum Apfelbäumchen zu sagen, und mit SAINT-EXUPÉRY den »weisen Mann zu loben, der eine Zeder pflanzt, obwohl er sich nichts erhofft von ihrem fernen Schatten«! 

    Bonsai ist eine schöpferische Aufgabe, die Freude und Erwartung in das Einerlei unseres Alltags bringen kann.