2) Was Bonsai ist und - nicht ist
Zu deutsch heißt Bonsai »Baum im Topf«. Diese einfache Übersetzung sagt nur wenig über das Wesen der Bonsai-Kultur aus. Die Skala der möglichen Betrachtungsweisen reicht vom oberflächlichen Aspekt der Baumgröße über die biologische Frage, warum ein Bonsai klein bleibt, bis hin zur geschichtlichen Herkunft mit einem breiten kulturellen Hintergrund.
Die Beantwortung der Frage, wie ein Gehölz zum Bonsai wird und welche Ursachen für diese ungewöhnliche Art des »Zwergwuchses« verantwortlich sind, mag fürs erste ausreichend Licht in das geheimnisvolle Dunkel bringen.
ln der Regel entstehen Bonsais aus Pflanzenarten, die von ihren Anlagen her zu meterhohen Bäumen heranwachsen könnten, wie wir sie überall in der Natur antreffen. Ein Bonsai soll aber durch unser Eingreifen auch nach Jahrzehnten die Höhe von 1 m nicht überschreiten. Daraus ergibt sich schon für die Auswahl eine Einschränkung. Die Größe von Blättern und Nadeln soll in einem möglichst harmonischen Verhältnis zu den Bonsai-Ausmaßen stehen. So scheiden für mich Walnuss und Kastanie lediglich wegen ihrer großen Blätter als Bonsai-Anwärter aus.
Andererseits sollte man sich nicht zu stark auf Gehölze verlegen, die auf Zwergwuchs gezüchtet sind, da sie eine besondere Formung und Gestaltung kaum nötig haben. Gerade hierin aber liegen die schöpferischen Möglichkeiten für den Bonsai-Freund.
Warum erreicht nun eine Buche, die in der freien Natur etwa 35 m hoch würde, in unserem Topf nur Kniehöhe? Vergleichen wir einige Buchen, die zwar natürlich, aber unter verschiedenen Bedingungen herangewachsen sind, so lässt sich daraus eine teilweise Antwort ableiten: Wo Pflanzen in der Natur extremen Standortbedingungen ausgesetzt sind, passen sie sich durch geringe Zuwachsraten und besondere Wuchsformen den Gegebenheiten an. Eine wichtige Rolle spielen dabei intensive Sonneneinstrahlung, lang anhaltende, starke Winde, unausgeglichene Bodenfeuchtigkeit und spärliches Nahrungsangebot.
Die im Gebirge ein kärgliches Leben fristenden Krüppelkiefern lassen in ihrem ganzen Erscheinungsbild deutlich den unaufhörlichen Kampf mit Wind, Hagel, Schnee und starken Klimaschwankungen erkennen.
Solche Beobachtungen zeigen dem Bonsai- Gestalter, worauf es ankommt: Die Witterungseinflüsse sind das notwendige »tägliche Brot« für seine Bäumchen. Bonsais, die unserer heimischen Baumwelt entstammen, haben zu keiner Jahreszeit etwas in der Wohnung zu suchen. Wichtiger aber als die Witterungseinflüsse ist das wohlüberlegte Schneiden am Stamm, an Ästen und Zweigen sowie an den Wurzeln. Dadurch lässt sich das Weiterwachsen in beliebiger Höhe unterbrechen oder in eine andere Richtung lenken. Durch den Rückschnitt werden kaum erkennbare Knospen zum Austrieb angeregt, und es entsteht eine dichtere, zum kleinen Baum passende Verzweigung (Bilder 37, 41).
Neben den wachstumshemmenden Maßnahmen muss der Bonsai-Gärtner seinen Blick auch auf die Gesunderhaltung seiner Bäumchen richten. Durch Vorbeugen lässt sich schon manches Unheil fernhalten. Der Schlüssel dazu liegt im richtigen Erdgemisch sowie im Düngen und Gießen, entsprechend dem Bedürfnis der Pflanzen, aber auch im rechtzeitigen Umtopfen und im Wurzelschnitt Gesunde, kräftige Bäumchen sind weniger anfällig für Krankheiten und Schädlinge.
Bonsai = Krüppelholz? Nein. So könnte nur jemand formulieren, der wirklich nicht mehr weiß, als dass ein Bonsai ein klein gehaltenes Bäumchen ist. Kein Bonsai-Freund würde seine Bäumchen, die er mit viel Liebe gestaltet, in dieser Weise abwerten.
Bonsai aus religiös-philosophischer Sicht
Wüsst ich genau, wie dies Blatt aus seinem Zweig herauskam, schwieg ich auf ewige Zeit still: denn ich wüsste genug.
HUGO V. HOFFMANNSTHAL
Bonsai kommt aus einer uns bis heute fremd gebliebenen Kultur, die, wie unsere abendländische, maßgeblich von religiösen Vorstellungen geprägt ist. So war Bonsai in Japan stets mehr als ein nüchternes Experimentieren mit Bäumen. Es spielte vor allem in der Meditation der alten Meister eine Rolle. Auch der Christ kennt Übungen, sich und der Welt auf den Grund zu kommen, also zu meditieren. Doch ihm rauben zwei Merkmale unserer Zeit, die religiöse Verflachung und der alles terrorisierende Zeitdruck, Stück für Stück diese lebenswichtige Fähigkeit. Warum sollten uns die Wunder des Baumlebens nicht zu den tieferen Geheimnissen der Schöpfung hinführen?
Bonsai als Kunst
Wir Europäer werden diese neue Beschäftigung kaum auf die anspruchsvolle geistige Ebene der alten japanischen Mönche und Fürsten heben können. ln gestalterischer Hinsicht aber wird die Bonsai-Liebhaberei auch bei uns den Rang einer Kunstgattung erreichen. Das wichtigste Kriterium für Bonsai als Kunst ist die Baumformung. Alle Maßnahmen zur Bonsai-Erziehung verlangen, dass wir uns ernsthaft mit den Bäumen in der freien Natur und ihren Wachstumsgesetzen beschäftigen. Bonsai wird zur Kunst, wo es uns gelingt, die schönsten Baumgestalten der Natur im Topf zu kultivieren oder gar zu verfeinern.
Wege zum Bonsai
Die chinesischen und japanischen Bonsai-Gärtner bauen auf einem in Jahrhunderten gewachsenen Erfahrungsschatz weiter, den wir uns nicht von heute auf morgen aneignen können. Beobachtet man bei uns das Geschäft mit Bonsai, so hat man den Eindruck, der östliche Vorsprung lähme hierzulande jede schöpferische Tätigkeit. Der Schauplatz wird von den massenhaft eingeführten japanischen und chinesischen Bonsais beherrscht. Daran führte zunächst auch kein Weg vorbei, denn es ist noch nicht lange her, dass wir auf den Zauber dieser Bäumchen aufmerksam wurden. Ich meine aber, wir Europäer könnten dies bald ändern, wenn wir uns nur aus der passiven Rolle herauswagten und mutig eigene Bäumchen zu gestalten versuchten. Voraussetzungen dazu bieten sich genug: geeignete heimische Baumarten, das für sie günstige Klima und - begeisterungsfähige Baumfreunde. Obwohl sich ein Bonsai nicht im Schnellverfahren aus dem Boden zaubern lässt, hegt jeder Anfänger insgeheim die Hoffnung, wenigstens eines seiner Bäumchen in kürzester Zeit zu einem veritablen Bonsai erziehen zu können. Tatsächlich gelingt dies auch, man muss nur wissen, was den Weg zum »schnellen« Bonsai ebnet. Zwei Möglichkeiten bieten sich an
• schnellwüchsige und verzweigungsfreudige Pflanzen verwenden
• ältere, schon gutgewachsene Pflanzen im Freiland ausgraben. Ergänzend dazu kann der Baumfreund dies noch tun
• den Blick für verschiedene Wuchsformen schulen - hilft beim Sammeln geeignete Bäumchen zu finden
• gut gewachsene Sämlinge oder Stecklinge zu Miniatur-Bonsais formen
• durch häufiges Üben in der Gestaltungstechnik zunehmende Fertigkeit erlangen - damit sein Bäumchen schon bald Bonsai-Format gewinnt.
Auf diese Weise lassen sich Topfbäumchen erziehen, deren wohlgelungene Form schon nach 2- 3 Jahren Freude bereitet. Als Meisterwerk wird man sie noch kaum bezeichnen können, doch zeigen sie bereits ein wichtiges Qualitätsmerkmal: ein ausgewogenes Stamm/Krone-Verhältnis. Die Harmonie kommt zustande durch die gefällige Anordnung der Äste, durch die Ausbildung des Wurzelhalses, die Blattgröße und andere Einzelheiten - und nicht zuletzt durch die überlegte Auswahl einer Schale, denn sie soll den Bonsai-Charakter unseres jungen Bäumchens harmonisch abrunden (Bild 3).
Vorbild und Stütze für unsere Bemühungen sind die in diesem Buch abgebildeten Topfbäumchen. Sie zeigen, dass auch im europäischen Raum inzwischen Könner leben, deren Werke jedem Vergleich mit japanischen Bonsais standhalten.